Der Preis einer Pizza

„Essay“ ist eine journalistische meinungsbildende Form, die inzwischen auch als Klausurthema im Abitur gestellt wird. Ein erfolgreicher Abiturient des Jahres 2015 (inzwischen Germanistikstudent) hat uns einen Essay zur Verfügung gestellt, den er vor etwa einem Jahr – als Abiturvorbereitung – verfasste – und sich damit einem Thema zuwandte, das in den folgenden Monaten immer brisanter wurde:

 

 

Der Preis einer Pizza

 

In unserer Zeit zu erschüttern ist einfach. Unsere Gesellschaft ist sensibilisiert durch das vergangene Jahrhundert und zur Erhaltung diplomatischer Beziehungen muss man stets die Etikette wahren, so schwer es einem auch fällt. So wäre ein marginaler Ausrutscher, ein Miniatur-Fettnäpfchen also, in das Frau Merkel treten würde, ein gefundenes Fressen für sämtliche Zeitungen der Republik und die Öffentlichkeit wäre: erschüttert. Auch der Absturz der German Wings, der, gemessen an der Zahl der Toten, keine Tragödie exorbitanten Ausmaßes ist, löste einen Tsunami des Entsetzens aus, größer noch als der, der 2004 große Teile Süd-Ost-Asiens dem Erdboden gleich gemacht hatte und wir waren: erschüttert. Wie konnte ein einzelner Mensch solch ein Grauen anrichten, wie kann ein Individuum nur von solch abscheulicher Bösartigkeit sein? Aber wenigstens gab es einen Schuldigen, auf dem die Medien herumhacken konnten. Umso mehr erschütterte uns das Flüchtlingsdrama vor den Küsten Europas. 400 Tote und niemand, auf den wir mit dem Finger zeigen konnten. Wirklich niemand? Oder sind es einfach zu viele, die Schuld an der Katastrophe tragen? Sind es die Schleuser? Sind es die afrikanischen Staaten, die ihren Bürgern nicht das nötige Existenzminimum und genügend Sicherheit bieten können? Sind es die versagenden Küstenwachen? Oder sind am Ende sogar auch wir selbst schuld?

So viel Unsicherheit verunsichert uns logischerweise. Darum ist es Zeit, nach Antworten auf drängende Fragen zu suchen. Die Politiker fast aller EU-Staaten, die mit dem Flüchtlings-„Problem“, wenn man es so nennen will (ich vermeide diesen Begriff lieber, da er Menschen auf der Suche nach Sicherheit und Entfaltung zu einem banalen Störfaktor degradiert), konfrontiert sind, sprechen sich dafür aus, die Lebensbedingungen in Nordafrika zu verbessern. Das Ziel sei es, den Anreiz zu minimieren, nach Europa zu fliehen und damit Schleuser arbeitslos und die Meere leichenfrei zu machen. Lobenswerter Ansatz, wirklich! Und wie ist eine Verbesserung der Lebensqualität zu bewerkstelligen? Sollen wir einfach Geld in diese Länder pumpen, in der Hoffnung auf wirtschaftlichen Aufschwung? Aber auch unter Vernachlässigung des Risikos, dass das Geld in die falschen Hände gerät und machthungrige Despoten ihre Untertanen kujonieren? Dann gibt es vielleicht weniger Wirtschaftsflüchtlinge, aber dafür umso mehr, die vor der Tyrannei fliehen.

Auch die üblichen Maßnahmen, wie Schulen, das Militär und die Verlagerung von Firmen sind nicht unproblematisch. Kein Investor würde das Risiko eingehen, eine Fabrik in einem krisengebeutelten Land aufzubauen, aber in einem demokratischen Staat wie Deutschland kann man leider auch keinen dazu zwingen. Und Schulen, Militär, Verbesserung der Infrastruktur…was das alles kostet! Das reiche Europa ist ja auch nur deshalb so reich, weil es geiziger ist als Dagobert Duck. Und deshalb auch so attraktiv für Flüchtlinge. Wären wir arm, hätte ja keiner Interesse, zu uns zu kommen. Und weil wir so ungern Geld ausgeben, sollten wir uns doch auch für die billigste Variante entscheiden: Wir könnten die Flüchtlinge einfach vor dem Ertrinken retten.

Nun ist es Zeit für ein wenig Mathematik. Italien trug die Kosten von 9,3 Millionen Euro monatlich für das Flüchtlingsrettungsprogramm Mare Nostrum ganz allein. Mit diesem Budget konnte jährlich 130.000 Flüchtlingen das Leben gerettet werden, also wurden pro Monat elftausend Flüchtlinge vor dem Tode bewahrt. 9,3 Millionen Euro für elftausend Menschen machen pro Individuum rund 800 Euro für Italien. Würden sich alle achtundzwanzig Mitgliedsstaaten der EU die Kosten von Mare Nostrum teilen, so käme man auf sagenhafte 30 Euro pro gerettetem Menschenleben. 30 Euro! Das ist die Hälfte eines durchschnittlichen Taschengeldes und im Vergleich zu den gigantischen Summen, mit denen Staaten jonglieren, ein verdammt schlechter Scherz!

Noch perverser als diese 30 Euro ist die Tatsache, dass sich die EU-Mitglieder, mit Ausnahme von Italien, bisher nicht für die Rettung von Flüchtlingen verantwortlich gefühlt haben, sondern die Arbeit lieber auf ein einziges Land abgewälzt haben. Es scheint so, als würde das restliche Europa die Überzeugung vertreten, dass die Ankunftsländer von Flüchtlingen eine größere Verantwortung zur Rettung dieser Menschen haben, als die Staaten, in die sie letztendlich fliehen.

Das alles gipfelt in der Abschaffung von Mare Nostrum, zugunsten der Triton-Mission. Diese veranschlagt 2,8 Millionen Euro monatlich zur Rettung von Flüchtlingen. Aufgeteilt auf alle EU-Staaten macht das etwa neun Euro pro Mensch und mich sehr nachdenklich. Neun Euro. Unser solidarisches Deutschland, unsere reiche Heimat ist bereit, den Preis einer Pizza mit der Rettung eines Menschenlebens gleichzusetzen. Bravo!

Es sind diese Momente, in denen ich mir mehr Taten als leere Worthülsen wünsche. Momente, in denen ich mich frage, warum wir das Geld haben, fast 50 Milliarden Euro in Rüstungsausgaben zu stecken, unter anderem, wenn man bedenkt, dass das angelegte Geld bei Hitze jede Effizienz einbüßt und Deutschland global gesehen nun wirklich kein bedeutender Krisenherd ist. Die läppischen vier Millionen pro Jahr für Mare Nostrum sind ein mieses Trinkgeld dagegen. Ich bilde mir ein, im Grundgesetz mal irgendetwas von Menschenwürde gelesen zu haben. Ziemlich weit vorne sogar, kann das sein? Aber trotzdem lässt sich Frau Merkel ihr Abendessen vermutlich das Vielfache eines Menschenlebens kosten.

Anstatt das Einsatzgebiet der „Flüchtlingsrettung“, wenn man Triton überhaupt guten Gewissens noch so nennen kann, und deren Budget zu verkleinern, sollte sie mit ihren Polit-Freunden vielleicht mal darüber nachdenken, was wirklich ihre Aufgabe ist. Jeden Tag dasselbe Gerede von Reformen, Veränderungen und Lösungen, monatelange Diskussionen über den richtigen Weg, bis man ihn schließlich verpasst hat und sich getrost der nächsten Krise zuwenden kann. Unsere Politiker müssen endlich begreifen, dass es nicht darum geht, sich zu profilieren, sondern die Welt zu verbessern. Das ist einfach ihr verdammter Job!

Herrgott, diese Aufregung macht mich ganz hungrig. Ich hol mir erstmal eine Pizza.

 

Valentin Brückner